Industrie 4.0 - Prozessmodelle (Digital Twins)

Motivation
Durch die Prozessmodellierung kann anhand einiger ausgewählten Tempersaturmessdaten das vollständige Temperaturprofil im Material bzw. Bauteil bestimmt werden. Durch diesen mathematischen Zugang zum Prozess liegen die Daten in einer strukturierten Form vor, die die weitere Verarbeitung im Rahmen von Industrie 4.0 erleichtert. Es lässt sich beispielsweise für jedes Produkt, das die Anlage durchläuft, automatisch ein digitaler Zwilling generieren, mit dessen Hilfe die Vernetzung mit den vorherigen oder nachfolgenden Prozessschritten möglich ist.
Baukastensystem für Prozessmodelle
Um alle Anlagen aus dem Produktspektrum möglichst effizient mit Prozessmodellen ausstatten zu können, wurde bei der OTTO JUNKER GmbH eine Softwarebibliothek entwickelt, die es ermöglicht, Prozesse mit einem Baukastensystem als FVM-Simulation abzubilden. Die Grundlagen dieses System wurden beispielsweise in [2] erläutert.
Volumenelemente können erstellt und mit verschiedenen Randbedingungen verknüpft werden. Ein Volumen besitzt geometrische Dimensionen und Informationen über seine Materialeigenschaften. Die Verknüpfungen bilden unterschiedliche Mechanismen des Wärmetransportes ab. So können Effekte wie Wärmeleitung, konvektiver Wärmeübergang mit und ohne Phasenwechsel, Strahlung oder Enthalpieströme abgebildet werden. Anschließend wird dieses System einem Solver übergeben, der in Lage ist, Systeme dieser Art sowohl stationär als auch instationär zu lösen. Dabei wird auf verschiedene numerische Methoden wie das Crank-Nicolson-Verfahren, MUSCL-Schemata oder Adams-Moulton-Verfahren zurückgegriffen, um auch Stöße oder Unstetigkeiten im Temperaturprofil behandeln zu können. Diese Verfahren sind in der gängigen Fachliteratur zu finden, beispielsweise in [3], [4] oder [5].
Anwendungsbeispiel Barrenquench
Bei der Herstellung von Aluminiumbändern werden zunächst Barren mit Abmessungen in der Größenordnung von 4,5 x 1,2 x 0,5 Metern in Stossöfen wärmebehandelt. Eine Homogenisierungsglühung findet bei etwa 540 °C statt. Bevor die Barren anschließend warmgewalzt werden können, müssen sie eine gleichmäßige Temperatur von 400 °C erreicht haben. An den Enden des Barrens ist eine leicht erhöhte Temperatur gewünscht, da dies den Walzvorgang erleichtert. Ein einfaches Abkühlen an Luft mittels freier Konvektion würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem wäre es nicht möglich, das gewünschte Temperaturprofil einzustellen. Aus diesem Grund wird eine Wasserabschreckung (Quench) mit einer anschließenden Ausgleichsphase eingesetzt.
Die Barren werden auf einem Rollgang von verschiedenen Öfen zur Quench transportiert. Dort werden sie gezielt mit Wasser beaufschlagt und anschließend in eine Ausgleichskammer transportiert. Dort verweilen sie bei 400 °C Umgebungstemperatur für 20 Minuten. Nach Ablauf dieser Zeit werden die Barren zur Warmwalze bewegt und weiterverarbeitet.
Die Anforderung an die Wasserabschreckung ist, dass nur so viel Energie aus dem Barren entzogen werden soll, wie es einer gleichmäßigen Kühlung von 540 °C auf 400 °C entspricht, da in der Ausgleichskammer keine erneute Energiezufuhr stattfinden soll. Auf diese Weise werden der Energiebedarf und damit die letztlich auch die Kosten des Prozesses minimiert.
Dazu wird die Oberflächentemperatur jedes Barrens direkt vor der Quench gemessen. Anschließend wird mit einem Prozessmodell, das auf dem beschriebenen Baukastensystem basiert, der Transport vom Ofen zur Quench simuliert. Dabei wird eine gleichmäßige Temperatur beim Verlassen des Ofens angenommen und während des Transportes von freier Konvektion ausgegangen. Stimmt die so an der Oberfläche berechnete Temperatur mit der gemessenen überein, wird die simulierte Temperaturverteilung als Ausgangsbasis für die weiteren Berechnungen verwendet.
Nun wird eine initiales Rezept für die Quench ausgewählt und der gesamte Prozess bis zum Ende der Ausgleichszeit simuliert. Anschließend wird überprüft, ob die Anforderungen an die Temperatur des Barrens erfüllt werden oder nicht. Wenn nötig, wird das Rezept der Quench angepasst und eine erneute Simulation durchgeführt. Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis eine Einstellung gefunden ist, mit der der Barren die Ausgleichskammer mit dem gewünschten Temperaturprofil verlässt. Dieses Rezept wird dann in die Steuerung der Quench geladen und angewendet. Hierfür sind etwa 5 bis 10 Durchgänge der Simulation erforderlich, was aber innerhalb weniger Sekunden möglich ist. Auf diese Weise wird jede Barrengeometrie mit einem individuell zugeschneiderten Rezept behandelt, um die Restwärme optimal zu nutzen.
Die Ergebnisse einer solchen Simulation sind in den Abbildungen 1 bis 5 grafisch aufbereitet:
Die Abbildungen 4 bis 6 zeigen die Entwicklung der Temperatur während der Ausgleichphase. Hier ist die im Vergleich zu den vorherigen Bildern andere Farbskalierung zu beachten. In Abbildung 4 sind noch große Temperaturunterschiede sichtbar. Wie in den Abbildungen 5 und 6 zu sehen ist, werden diese Unterschiede im Laufe der Zeit geringer. Schließlich wird im Inneren des Barrens eine Temperatur von circa 400 °C erreicht, während die Stirnseiten Zwecks verbesserte Walzbarkeit eine erhöhte Temperatur aufweisen.
Fazit und Ausblick
Durch das hier vorgestellte Prozessmodell wird für jeden Barren ein digitaler Zwilling erstellt, der Temperaturverlauf während der Abschreckung wird dokumentiert. Falls es beim Warmwalzen bestimmter Barren zu Problemen kommt, können auf diese Weise mit den Methoden des Data-Mining Zusammenhänge zu den vorherigen Prozessschritten hergestellt werden. Dies ist eine Voraussetzung für die umfassende Vernetzung von Prozessen und Anlagen im Rahmen von Industrie 4.0.
Ferner wird für jeden Barren ein optimales Rezept erstellt, was die Qualität des Prozesses erhöht. Der Betreiber der Anlage kann direkt die gewünschte Temperatur des Barrens beim Verlassen der Ausgleichkammer festlegen. Die Festlegung der Prozessparameter wie Wasserbeaufschlagungsdichte und Transportgeschwindigkeit des Barrens geschieht durch ein Optimierungsverfahren, das den Prozess mit Hilfe eines Prozessmodells abbildet.
Literature:
[1] Steller, I.: Sicherer Betrieb von Induktionsofen-Schmelzanlagen, DVS Media GmbH, 1. Auflage, 2018
[2] Künne, S., Mertens, T.: Prozessmodellierung im Rahmen der kontinuierlichen Wärmebehandlung von Aluminiumbändern. Gaswärme international, 6-2016
[3] SCHÄFER, M.: Computational Engineering – Introduction to Numerical Methods. Springer-Verlag, 2006.
[4] Dahmen W., Reusken A.: Numerik für Ingenieure und Naturwissenschaftler. Springer-Verlag, 2008.
[5] Guinot, V.: Godunov-type Schemes: An Introduction for Engineers. Elsevier, 2003.